Grimme Online Award 2010

Statement der Jury

Wie würde wohl Florian Meimberg die Aufgabe lösen, die Preisträger und Nominierten des Grimme Online Award 2010 zu würdigen, ein paar Trends in der Online-Publizistik herauszuarbeiten und die eine oder andere Leerstelle im German Wide Web zu benennen? Also: diesen Text hier zu schreiben.

Auf jeden Fall sehr kurz.

140 Zeichen stehen bei jeder Nachricht auf Twitter zur Verfügung. Meimberg beweist, dass sich diese nicht erschöpfen müssen in körpereigenen Statusmeldungen wie „Derbe Kopfschmerzen heute, bleibe zu Haus“ oder Mecker-Posts: „U-Bahn so voll, Leute drängeln, Scheiß Montag“. Meimberg erzählt TINY TALES. Die gehen so: „Gordon rechnete. Die Flutwelle war jetzt 10 km von der Küste entfernt. Noch könnten die ahnungslosen Dorfbewohner fliehen. Er bellte heiser.“ Er wird mit dem Grimme Online Award 2010 in der Kategorie Spezial ausgezeichnet, weil er beweist, dass man auch auf einem Short-Message-System wie Twitter publizistische Kraft entfalten kann, wenn man etwas zu sagen hat.

Das Jurystatement, gezwitschert, könnte also so aussehen: „Das Medium ist nicht die Botschaft, es kommt ganz auf den Sender an. Und wo viele senden, wird manches sehr gut.“

Tausende deutschsprachige Webangebote kann man der Publizistik zuordnen. Das Angebot erscheint uferlos. Und vieles im Web taugt nichts oder erhebt gar nicht erst den Anspruch, Qualität zu bieten. Das verleitet manche dazu zu glauben, dass das Angebot im Netz pauschal ungenügend sei. Zu ihnen zählen etwa die Verunsicherten, die sich davor fürchten, was das Web noch alles hervorbringen mag. Und die Hochmögenden, die sich herausragende publizistische Leistungen partout nur auf Papier vorstellen können – als wäre der Journalismus ein Fachbereich der Holzwirtschaft.

Was für ein Irrtum! Die 24 Nominierten und die acht Preisträger des Jahres 2010 demonstrieren, welche Kraft im Netz steckt und wie viel Kreativität sich hier entfaltet, die sonst keine Bahnen fände. Einer guten Idee verbunden mit hochwertiger Umsetzung sind keine Grenzen gesetzt. Ein fußballbegeisterter Teenager kann sich im Netz seinen Traum erfüllen und ein regionales Fußballportal aufziehen. Junge Journalisten können ihr Interessensgebiet Orient, zu dem sie in den traditionellen Medien nicht ausreichend veröffentlichen können, in einer intelligenten und unterhaltsamen Website wortstark und multimedial aufblättern. Journalistenschüler beweisen, welche Möglichkeiten dieser Job in Zukunft bietet, wenn man sich nicht zu sehr an seinem Papier festhält.

Was die Vermittlung von Wissen angeht, ist das Web längst dabei, sich unter den verschiedenen Mediengattungen einen herausragenden Platz zu erobern. Auch das zeigen die Ausgezeichneten exemplarisch. Wo sonst wollte man für Kinder das Leben auf dem Bauernhof und für Erwachsene das Geschehen bei den Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 so lebendig und abwechslungsreich darstellen? Ja, selbst die Berufsberatung wirkt plötzlich ganz vital. Und ein öffentlich-rechtlicher Sender traut sich was und bietet dem Nachwuchs Raum für frische Filme – erst im Web, dann im TV. Es ist übrigens das Schweizer Fernsehen, solchen Mut wünschte man sich öfter auch hierzulande.

Gerade in den Nischen übernehmen Profis oder engagierte Kenner auf hohem Niveau die Berichterstattung über Themen, die in Presse, Funk und Fernsehen – und auch in deren Webangeboten – keinen Platz finden. Dabei nutzen sie das Netz nicht zur Gegenöffentlichkeit, hier wird gegen nichts und niemanden mobil gemacht. Es geht entspannter zu – im Sinne einer Nebenöffentlichkeit. Ob in Blogform oder als Mini-Portal, ob multimedial aufbereitet oder schlicht per Standardsoftware hingeschrieben: Das Web erzeugt seine eigene publizistische Vielfalt jenseits des Mainstreams. Auch hier lohnt ein genauerer Blick etwa auf die Blogs, die in diesem Jahr nominiert wurden, aber auch auf die Web-TV-Formate. Ihnen allen gemein ist der spezielle, kundige Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Was sonst keiner beackert, im Netz findet es Platz – und siehe, es ist interessant.

Insofern sind die nominierten und ausgezeichneten Websites auch ein Versprechen: Sie zeigen, dass das Internet weit mehr Vielfalt zulässt als Fernsehen und Presse. Sollten Lokalzeitungen weiter sparen, sollte das Fernsehen weiter Einheitssoße bieten – das Netz steht als Alternative bereit. Und immer mehr Bürger wissen das. Neue Primetime im Internet, früher die Mittagspause, ist nun der Abend. Das ist genau die Zeit, in der bisher ferngeguckt oder die Zeitung gelesen wurde.

Qualitäts-Publizistik – oder schlichter gesagt: Sehr gute Veröffentlichungen gibt es im Netz also zuhauf. Doch die Logik des Web macht es guten Seiten nicht leicht, auch gefunden zu werden. Wen Google nicht ausspuckt, der existiert nicht. Wer nach dem „Soukmagazine“ mit Begriffen wie „Orient“, „Magazin“ oder „Journalismus“ sucht, findet Bauchtanzkurse. Bis vor kurzem erwies sich Google, selbst wenn man den Namen korrekt eingab, als skeptisch gegenüber dem Preisträger des Grimme Online Award und fragte: „Meinten Sie Soul Magazine?“ Und bot die Treffer zu diesem Magazin vorsichtshalber auch gleich mal als erste an – und erst dann das „Soukmagazine“.

Das Internet ist bunter, als das große Suchmonster uns weismachen will. Die Professionalisierung der Netz-Publizistik ist weit vorangeschritten. Allerdings nicht auf allen Gebieten. Viele Angebote setzen so sehr auf den Inhalt, dass Design und nutzerfreundliche Bedienung der Seite schon mal auf der Strecke bleiben. Doch das lässt sich leicht ändern. Bedenklich stimmt ein anderer Befund: Die ausgezeichneten Websites des Jahres werden fast ausschließlich entweder von Liebhabern betrieben, von jungen Journalisten, die sich ausprobieren, oder von im weitesten Sinne staatlich finanzierten Institutionen.

Ohne die Einnahmen der Websites zu kennen, scheint klar: Ein Geschäft ist keines oder kaum eines der Angebote. Darum geht es beim Grimme Online Award nicht? Stimmt, nicht direkt. Aber letztlich doch. Wenn publizistische Websites nur ausnahmsweise als Geschäft betrieben werden können, ist die gerade entstehende Vielfalt schon wieder in Gefahr. Wenn nur Selbstausbeutung oder Zwangsgebühren zu preiswürdiger Qualität im Netz führen, müssen wir uns fragen, wo der Systemfehler liegt.

Bei Twitter würden wir es vielleicht so lesen: „Qualität hat ihren Preis, dachte der Online-Publizist und aß sein Brot. Es stammte aus dem Papierkorb vor Edeka. Besseres findet man nirgends.“