Grimme Online Award 2015

Statement der Nominierungskommission

"Gegenrede...!" Wer glaubt, die Arbeit in der Nominierungskommission des Grimme Online Award sei immer konfliktfrei und konsensselig, irrt. Dass es nach vielen kontrovers geführten Diskussionen doch zu einem mit ganzen Herzen gemeinsam getragenen Ergebnis kommt, liegt nicht nur an der gründlichen Vorbereitung und souveränen Moderation der Kolleginnen und Kollegen vom Grimme-Institut, sondern auch an der Erfahrung, die sich bei allen Beteiligten während der gemeinsamen Bewertung hunderter von Angeboten einstellt.

Das diesjährige Feld hat eine Beobachtung vom Vorjahr bestätigt: Die lange Form, viele Jahre lang das Stiefkind der deutschsprachigen Online-Publizistik, ist endgültig angekommen und etabliert. Neben der Verbreitung mobiler Endgeräte, die es ermöglichen, mit Muße auch in entspannteren Situationen zu lesen und zu konsumieren, haben dazu sicher auch Produktionswerkzeuge beigetragen, die die Erstellung solcher Angebote erleichtern. Hier ist zum Beispiel "Pageflow" zu nennen, ein Tool aus den technischen Laboren des Westdeutschen Rundfunks, das sich großer Beliebtheit erfreut – und im letzten Jahr einen Spezialpreis erhielt. Damit wurde beispielsweise das anrührende WDR-Porträt von "Onkel Willi" umgesetzt, einem Münsteraner Stadtoriginal. Die am Fernsehen geschulte multimediale Form bringt uns diesen Straßenmusiker so nahe, wie es wiederum in klassischen Fernsehformaten kaum möglich wäre.

Interessanterweise bedeutet "lange Form" zunehmend auch wieder lineare Erzählweise – die Möglichkeit der Navigation beschränkt sich meist auf die Bewegung innerhalb eines gegebenen narrativen Ablaufs. Das komplett nicht-lineare, kumulative Web-Special aus den frühen Jahren multimedialer Experimente hat sich offensichtlich nicht durchgesetzt. Statt dessen gibt es viele herausragende Reportagen, die einen – wie die multimediale Umsetzung von Cordt Schnibbens Stück "Mein Vater, ein Werwolf" – so sehr fesseln, dass man sich ihnen gerne im Sinne eines "Lean-Back" für eine längere Strecke anvertraut.

Gleichzeitig haben wir in diesem Jahr beobachtet, dass, neben der zunehmend routinierten und oft sogar brillanten Präsentation und Darstellung von Themen, eine vorgeordnete Stufe der publizistischen Wertschöpfung an Bedeutung gewinnt: die Recherche. Dies ist vor allem der Gründung von "Correct!v" zu verdanken, einer gemeinnützigen Organisation, die sich der investigativen Recherche verschrieben hat und deren Resultate zur weiteren Verwendung freigibt. Mit gleich mehreren Recherchen war "Correct!v" im Feld, einige davon sowohl als Eigenleistung der Organisation als auch in der späteren Ausarbeitung journalistischer Partner eingereicht. Wir haben mit "MH17 – Die Suche nach der Wahrheit" eines dieser Projekte nominiert, unter anderem wegen seines internetaffinen Recherchewegs, ebenso wie die Organisation "Correct!v" selbst, deren Konzept uns zukunftsweisend scheint.

Ein häufiger Fokus bei der Themenwahl waren die historischen Jubiläen: die Bombennächte in den Jahren 1944/45 und natürlich das große, düstere Ereignis des Weltkriegsausbruchs im Jahr 1914. Hier sind es vor allem die routinierten, professionellen Anbieter im Pressebereich und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die sich mit ihrer reichen Erfahrung und viel Sorgfalt an diese Themen herangetraut haben. Leider hat uns keines der eingereichten Angebote wirklich überzeugt: Gerade beim Thema 1914 ist der Rahmen so weit gesteckt, dass es offenkundig sehr schwer ist, zu einer wirklich zeitgemäßen und stimmigen Umsetzung zu kommen. Nominiert haben wir "Trauern verboten", ein Memento zum 25-jährigen Jubiläum des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens in Peking, das inhaltlich überzeugt und durch verhaltene typografische Effekte die Wirkung von Zensur eindrucksvoll veranschaulicht.

Wie schon im letzten Jahr waren wir überrascht über einen Mangel an Aktualität: Die meisten großen und relevanten politischen Reizthemen (Überwachung/Bürgerrechte, Freihandel/TTIP, zunehmende Arm/Reich-Schere...) fanden auch diesmal so gut wie gar nicht statt. Das empfinden wir als etwas beunruhigend. Vielleicht sollten die Anbieter nach Präsentation und Recherche nun einen weiteren Schritt in der journalistischen Wertschöpfung zurückgehen und sich noch einmal gründlicher mit der Themenfindung beschäftigen.

Auch die lokalen und regionalen Themen kamen uns ein bisschen zu kurz. Mit Ausnahme von drei gelungenen Hauptstadtprojekten haben wir hier wenig bemerkenswerte Impulse gespürt, während doch gleichzeitig der lokale und regionale Zeitungsmarkt ausblutet. Und es ist eine traurige Ironie, dass das von uns zuvor zu Recht positiv hervorgehobene "Correct!v" aus dem Stiftungsumfeld der WAZ-Verlagsgruppe entstanden ist, die sich durch Entlassungen buchstäblich hunderter Mitarbeiter aus Redaktionen und Verwaltung im Lokaljournalismus in die Schlagzeilen gebracht hat.

Generell mangelte es in diesem Jahr ein wenig an wirklich herausragenden Beispielen für die kleine, private Initiative, für die persönliche Form. Als Ausnahme sei hier "Shore, Stein, Papier" genannt, eine Reihe bei YouTube, in der ein ehemaliger Drogenabhängiger aus Hannover in mittlerweile über 300 Folgen seine Lebensgeschichte erzählt. Ein starker, eloquenter Protagonist, zurückhaltend und beeindruckend in Szene gesetzt, führt einen mitten hinein in eine Welt, die man sonst nur von außen kennt; das hat die Kommission überzeugt. Aus dem Bereich persönlicher Blogs hingegen gab es zwar viele sympathische, auch gut gemachte Einreichungen, aber kaum solche, bei denen wir das Potenzial gesehen haben, den Bannkreis ihrer jeweiligen Nischen zu verlassen. Doch trotz dieser Liste von Desideraten, die wir als Anregung für den nächsten Jahrgang verstanden wissen möchten, war das Feld in diesem Jahr spannend und bewegte sich fast durchweg auf einem sehr hohen Niveau. Und es macht Freude dabei zu sein, wenn sich unter den vielen wirklich guten Angeboten, die der Kommission zur Sichtung vorgelegt werden, schließlich im Prozess der Plädoyers und Diskussionen eine Gruppe von Angeboten herausschält, die noch ein bisschen besser sind und die oft zugleich exemplarisch für den Stand der Kunst, für die aktuelle kulturelle Leistung einer ganzen Branche stehen.