Grimme Online Award 2022

Statement der Jury

Das eine, alles beherrschende Thema des Jahres – in den Medien und damit erst recht im Internet, in dem alle Medien zusammenwachsen – kommt bei den Preisträgern des Grimme Online Award 2022 nicht vor.

Die Einreichungsfrist für Vorschläge endete am 1. März. Fünf Tage zuvor begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. So dynamisch es im Echtzeit-Internet auch zugeht, so live mitverfolgbar der Krieg im Netz und in den sozialen Medien auch erscheint – in dieser kurzen Frist können im Internet kaum preiswürdig originäre publizistische Ansätze entstehen. Ausdrücklich lobend erwähnen möchte die Jury die beispielhaft schnelle Initiative des „Katapult“-Magazins, das sofort reagierte – sowohl im Netz, als auch mit Aktionen wie einem Verzicht der Redaktion auf Teile ihres Gehalts, damit ukrainische Journalist*innen ihre wichtige Arbeit ohne Unterbrechung fortsetzen können. Themen, die mit Krieg zusammenhängen, Flucht und Vertreibung oder die atomare Bedrohung sind jedoch präsent. Das Krisengefühl, das sich schon im von der Pandemie geprägten Vorjahr zeigte, zeigt sich weiterhin im Feld der Einreichungen, Nominierungen und Preisträger.

Was auffällt, ist die Vielfalt der Formen im Meta-Medium Internet. Löst etwa TikTok mit seiner vertikalen Form, seiner Gesichter-fixierten Bildsprache und schnellen „Swipe-Kultur“ Instagram als Leit-Medium der jungen Generation ab?So könnte es scheinen. Gerade der produktive Umgang mit der Gesichter-Fixierung auf den Thumbnails zugunsten der multikulturellen Diversität springt im prämierten TikTok-Angebot „safespace.offiziell“ auf die ersten Blicke ins Auge.

Dass TikTok mit Hauptsitz in China – alles andere als eine lupenreine Demokratie und auch unter Datenschutz-Aspekten höchst zweifelhaft – kritische Betrachtung erfordert, so wie alle Netzwerke im Besitz dominanter Plattform-Konzerne, versteht sich. Solche Themen diskutierte die Jury auch in diesem Jahr gründlich.

Erneut wurden viele Podcasts vorgeschlagen, nominiert und prämiert. Es mag scheinen, als seien sie zur idealen Form avanciert, um aufwändige Recherchen differenziert aufzubereiten. Der Preisträger „Slahi – 14 Jahre Guantánamo“ etwa besteht aus Episoden zwischen 20 und 39 Minuten Dauer. Die Länge ergibt sich aus dem, was erzählt wird, nicht aus Sendeflächen, die im linearen Programm zur Verfügung stehen. Ins formatierte Radio-Programm passt so etwas nicht, ins Fernsehen gleich gar nicht, auch wenn Co-Host John Goetz eine 90-minütige Fernseh-Dokumentation zum Thema drehte. Handelt es sich also um eine „Zweitverwertung“? Auch solche Fragen diskutiert die Jury immer wieder. Eindeutig nein, lautet hier die Antwort. Erzählt wird anders, ausführlicher und mit mehr Raum für Ambivalenz, die vor Hintergründen wie islamistischem Terrorismus und Folter durch das „Land of the Free“ gar nicht ausgeräumt werden kann. Die beiden Moderatoren nehmen immer wieder unterschiedliche Perspektiven ein. Das gern bemühte Podcast-Prinzip dialogischer Präsentation setzen sie produktiv ein.

Was sich in Podcasts ebenfalls besonders gut ein- und umsetzen lässt: die tiefen Archive, die seit Beginn der Digitalisierung prallvoll sind, mit Onlinevideos, mit Audio-Samples und Radiosendungen. Davon zehrt der Podcast „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“, der die Laufbahn des ehemaligen Radio-Fritz-Moderators nachzeichnet und dabei auch zeigt, wie sehr ältere Medien die schnelle digitale Entwicklung unterschätzten.

Widerspricht die steigende Beliebtheit von Podcasts dem Trend zu non-linearen Medien? Schließlich werden Podcasts zunehmend linear erzählt, wie schon die häufig zu hörenden „Wenn Du Folge eins noch nicht gehört hast“-Hinweise zeigen. Ein individuelles Tempo der Rezeption ist kaum möglich, es lässt sich schwer etwas überspringen (wie Jury und Nominierungskommission zu gut wissen). Sind Podcasts also eine Art Gegenbewegung zum „Scrollytelling“, das zur Auflösung der Linearität beitrug und lange für herausragende, GOA-prämierte Internetangebote stand? Auch darüber haben wir diskutiert.

Multimediale Internetangebote, durch die Nutzer*innen sich individuell hindurchklicken und -scrollen können, spielen weiter eine wichtige Rolle. Mit Videos, Audio-Elementen, Texten und eindrucksvollen unbewegten Fotos arbeitet beispielsweise „Kandvala“, von zwei jungen Leuten jenseits aller Institutionen mit minimalem Budget, dafür umso mehr Engagement auf eigene Faust konzipiert und recherchiert, gefilmt und aufgenommen. Mit seiner Gestaltung fesselt das Scrollytelling „Umwelt in Ostdeutschland“. Gerne betrachtet die Jury Angebote, die den Osten Deutschlands thematisieren – und diskutiert, warum sie nach wie vor im Wettbewerb unterrepräsentiert sind. Hier schafft es eine herausragende Datenvisualisierung in das Preisträgerfeld, die Zahlen nicht nur begreiflich macht, sondern sie mit Freude entdecken lässt, auch wenn die Gesamtlage eher unerfreulich ist.

Komplexität darzustellen, nicht auszuufern, komplizierte Themen aber auch nicht unzulässig zu verkürzen und für unterschiedliche Geschmäcker unterschiedliche Nutzungsarten anzubieten, das ist auch im klassischen Kulturbereich ein Thema. Erstaunlich einfach konzipiert mag da der Preisträger „Im Dunkeln – ein Leuchten“ anmuten, mit seiner ver- und enthüllenden Präsentation eindrucksvoller Werke, die der jüdische Stuttgarter Fred Uhlman im britischen Exil schuf. Die dezente Interaktivität zeigt, dass auch im Internet-Jahrgang 2021/22 scheinbar schlichte Mittel große immersive Wirkung entfalten können.

Das bezeugt ebenso „Correctiv.Lokal“. Ausgehend vom einfachen Netzwerkgedanken ermöglicht das Recherchekollektiv Lokaljournalist*innen, das zu tun, was die Leser*innen von ihnen erwarten: über bundesweit relevante Themen im Lokalen zu berichten.

Der schweizerische Preisträger „Nuclear Games – Die atomare Bedrohung“ hingegen greift in Zeit und Raum aus – in die Vergangenheit seit den Atombomben-Abwürfen 1945 und besonders in den medial oft wenig beachteten Kontinent Afrika, der während des Kolonialismus und danach unter Aktivitäten der Atommächte litt und leidet. Dass 2022 erstmals seit Jahrzehnten die Gefahr eines Atomkriegs schrecklich real erscheint, konnte bei der Erstellung des Angebots noch keine Rolle spielen – und lässt es nun umso brisanter erscheinen.