Grimme Online Award 2020

Statement der Jury

Es ist das Jahr der Kommunikation mit Abstand. Auch die Jury des Grimme Online Award wahrte in ihrer zweitägigen Sitzung die nötige Distanz. Den Debatten über die nominierten Angebote tat dies aber keinen Abbruch. Auch per Videoschalte lässt sich intensiv diskutieren und, ohne aus dem Nähkästchen plaudern zu wollen: Die Jury hat es sich einmal mehr nicht leicht gemacht, um aus den Nominierungen die Preisträger herauszukristallisieren. Wie jedes Jahr zeigte sich, dass eine reine Punktevergabe im Vorfeld die inhaltliche Diskussion über mögliche Preisträger nicht ersetzen kann. Eindrücke und Überlegungen müssen hinterfragt und zur Disposition gestellt werden können. Leider dürfen nur acht Trophäen verliehen werden, da beißen die Maus und die strengen Sachwalterinnen der Statuten des Grimme Online Award keinen Faden ab.

Die Preisvergabe geht in ihr zwanzigstes Jahr und parallel zum Grimme Online Award hat auch die Internetpublizistik die Pubertät weit hinter sich gelassen. Was vor ein paar Jahren noch neu und innovativ war, sowohl technisch wie inhaltlich, ist heute Standard. Das bedeutet, auf den Preis angewandt, dass die Jury verstärkt darauf achtet, ob Angebote in Machart und Thema eine Weiterentwicklung oder besondere Qualität erkennen lassen. Bringen sie die Internetpublizistik und die Gesellschaft in irgendeiner Weise voran? Ebenso werden Ausdauer und Hartnäckigkeit belohnt, denn was wäre das Netz ohne die Möglichkeit, es als frei zugängliches Archiv zu nutzen oder in Form von Watchblogs Entwicklungen beobachten zu können?

Vor diesem Hintergrund hat die Jury entschieden, „RomArchive“ und „NSU-Watch“ auszuzeichnen. Der Kultur der Sinti und Roma durch das „RomArchive“ eine virtuelle Heimstatt zu geben und ihre Internationalität und Vielfalt zu dokumentieren und erlebbar zu machen, ist nicht nur ein Geschenk an diese Volksgruppen, sondern an die Welt. „NSU-Watch“ wiederum hat den langen Atem bewiesen, nicht nur die Prozesse rund um die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds zu beobachten und zu dokumentieren, sondern auch weiter auf das Problem des anhaltenden rechten Terrors aufmerksam zu machen.

Eine weitgehend vergessene Geschichte dokumentiert wiederum „Eigensinn im Bruderland“, nämlich die der Migrant*innen in der DDR. Auch der real existierende Sozialismus auf deutschem Boden kannte Arbeits-, Bildungs- und Fluchtmigration. Die DDR war diverser, als so manche noch nachträglich glauben. Und auch gut 30 Jahre nach der Wende haben es Stimmen, die von der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland als „fremd“ betrachtet werden, in der Medienlandschaft schwer. „Karakaya Talk“ gibt Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur ein Forum, sondern auch die Möglichkeit, untereinander ins Gespräch zu kommen, ohne sich um die gängigen Konventionen herkömmlicher Talkshows scheren zu müssen. Das ist mehr als Informationsvermittlung und so leichtfüßig, dass sich die Jury die Freiheit genommen hat, „Karakaya Talk“ aus der ursprünglichen Kategorie Information, in der das Format nominiert worden war, in die Kategorie Kultur und Unterhaltung zu verschieben.

Natürlich ist 2020 auch das Jahr des Wissenschaftsjournalismus, nicht nur aufgrund der Corona-Pandemie. Mit dem Online-Reportage-Projekt „Die Spende“ zeigt die Zeitschrift „Stern“ wie eine zeitgemäße, sowohl visuell wie textlich anspruchsvolle, journalistische Darstellung des heiklen Themas Organspende gelingen kann – nah dran, aber ohne unnötigen Voyeurismus. Die hohen Abrufzahlen des NDR-Podcasts „Das Coronavirus-Update“ wiederum verweisen auf das Potenzial der Wissensvermittlung via Podcast. Auch wenn dort mit dem Virologen Christian Drosten ein kongenialer Gesprächspartner zur Verfügung steht, der komplexe Zusammenhänge auch für Laien nachvollziehbar erklären kann, so braucht es auch eine kompetente Redaktion und Moderation, damit sich Popularität und Fähigkeit zur Differenzierung nicht ausschließen. Begriffe wie Herdenimmunität, Reproduktionszahl und Saisonalität haben es auch durch diesen Podcast in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch geschafft.

Dass das Wort „Zerstörung“ in der Jugendsprache etwas anderes bedeutet als in der Erwachsenensprache, auch wenn der Effekt ähnlich sein kann, hat im vergangenen Jahr nicht nur die Union gelernt. Jemanden zerstören heißt dort: ihn sachlich kritisieren, ihn auf Fehlverhalten hinweisen. Das Video „Die Zerstörung der CDU“ hat dem YouTuber Rezo nicht nur Rekordklickzahlen beschert. Rezo hat damit einer breiten Öffentlichkeit vorgeführt, dass die Videoplattform nicht nur für Schminktipps und Gamerezensionen taugt, sondern auch politisch-publizistisch für Furore und Gesprächsthemen sorgen kann – und das unterfüttert mit Fakten. In einer ähnlichen Altersgruppe wie Rezo bewegt sich „STRG_F“, das investigative Video-Reportageformat des öffentlich-rechtlichen Netzwerks funk, das auch „Karakaya Talk“ verantwortet. „STRG_F“ sorgt mit einer ganz eigenen, aber stets journalistisch-seriösen Herangehensweise dafür, dass die Aufklärung über brisante Themen ihren Weg zu einer jungen Zielgruppe findet.

Aufmerksamen Leser*innen dürfte spätestens jetzt aufgefallen sein, dass die sogenannten „kleinen“ Angebote, also die Formate der Einzelkämpfer*innen und Nicht-Journalist*innen, bei der Preisvergabe in diesem Jahr kaum Berücksichtigung gefunden haben. Umso mehr freut sich die Jury, dass größere Medien zunehmend bemüht sind, solche Angebote oder ihre Akteur*innen zu übernehmen, und hofft, dass sich zukünftig weitere Wege der Kollaboration finden, um auch ureigenste Netz-Angebote zu unterstützen. Der Grimme Online Award versucht jedes Jahr aufs Neue, die herausragenden Angebote eines Jahrgangs zu würdigen und Hinweise darauf zu geben, in welche Richtung sich zeitgemäße Internetpublizistik bewegt.

Die Jury hofft, dass ihr das auch in diesem Jahr gelungen ist.