Grimme Online Award 2023

Statement der Jury

Zwei Jahrzehnte Grimme Online Award haben gezeigt, dass es sich mit Innovationen der Online-Publizistik wie an der Börse mit Hausse und Baisse verhält. In einigen Jahren zeigen Nominierungen und Preisträger, was der aktuell vorherrschende Trend beim Erproben neuer Webtechnologien ist. In anderen Jahren reihen sich diese Technologien eher unaufgeregt als Standard in den Kanon digitaler Darstellungsformen ein. 2023 ist ein solches „Standard-Jahr“ – und damit Vorbote für kommende „Innovations-Jahre“.

Und weil sich demzufolge die Angebote nicht gegenseitig im Wettlauf um die Interaktionstechnologie überbieten mussten, konnte die Jury preiswürdige Nominierungen diskutieren, die sich darauf fokussierten, das aktuelle Weltgeschehen vielfältig im Netz abzubilden. Die Frage nach bezahlbarem Wohnraum, die Auswirkungen der Kolonialisierung, der russische Angriffskrieg in der Ukraine und seine Folgen und nicht zuletzt das global drängende Thema des Klimawandels: Viel von dem, was derzeit für die rasanten Veränderungen in einer multipolaren Welt steht, findet sich in vielen guten Beiträgen im Netz.

Diese Vielfalt und Informationstiefe spürte auch in diesem Jahr die Nominierungskommission, die aus den über 800 Einreichungen 28 bemerkenswerte Preis-Kandidaten herausarbeitete. Die Jury sagt hierfür herzlichen Dank: Ohne diese intensive Vorarbeit hätte sie nicht arbeiten können.

Mit Blick auf die diesjährigen Preisträger zeigt sich, dass oft eine intensive Recherche im Vordergrund stand – insbesondere in „Das Ende vom ewigen Eis“ und „Schwangerschaftsabbruch in Deutschland“. Das eine ist ein Longread, der als sehr gelungener Beitrag des Wissenschaftsjournalismus die globalen Auswirkungen zunächst eher regionaler Klima-Ereignisse in hervorragender Weise aufbereitet. Das andere ist eine Umsetzung des 2022 mit einem Grimme Online Award ausgezeichneten Konzepts von CORRECTIV.Lokal, das Umfragen, Interviews, lokale Recherchen und Datenjournalismus zum Thema Schwangerschaftsabbruch kombiniert und sein relevantes Thema in einem „Deepdive“ zugänglich macht.

Das Autorinnenteam des Podcasts „Teurer Wohnen“ beginnt seine umfangreiche Recherche zunächst vor Ort, entblättert in sieben Folgen tatsächlich aber ein überregional relevantes Thema und zeigt, was für ein gesellschaftliches Spannungsfeld Wohnungswirtschaft, Politik und der Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum letztlich erzeugen. Ein stringenter übergeordneter roter Faden webt die Erzählung der Wohn-Geschichte ausgesuchter Protagonist*innen mit ein und macht diesen Podcast so hörenswert.

Persönlicher ist das TikTok-Angebot „DeinBruderStève“: Kompakter kann die Vermittlung aktueller Themen und historischer Zusammenhänge mit Fokus auf den afrikanischen Kontinent nicht sein. Stève Hiobi verleiht diesen oft vernachlässigten Themen mehr Sichtbarkeit, trotz des kanalspezifischen Kurzformats. Dass das Konzept verfängt, zeigt der Zuspruch in Form von Follower*innen und Views. Es ist aus Sicht der Jury lobenswert, dass hier ein Einzelkämpfer der nachwachsenden Zielgruppe, die klassische Nachrichtenangebote wenig nutzt, hilft, auf zeitgemäße Weise gegenwärtige Ereignisse einzuordnen. Den Blick zurück werfen die prämierten Angebote „Im Takt: Wege in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau“, „Stolpersteine NRW“ und „TO BE SEEN. queer lives 1900–1950“. Digitale Erinnerungskultur hat seit jeher einen festen Platz beim Grimme Online Award, weil gelungene Angebote immer wieder zeigen, wie wichtig die interaktive Aufbereitung von historischen Zusammenhängen ist – auch für aktuelle Debatten.

„TO BE SEEN“ bereitet die Geschichte(n) queeren Lebens zwischen 1900 und 1950 als Scrollytelling auf und berichtet mit vielen Zeitdokumenten vom Versuch, in der bewegten deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zuletzt in der alle Lebensbereiche durchdringenden Diktatur queeres Leben aufrechtzuerhalten. Das Thema ist angesichts der Tatsache, dass auch heute noch queere Menschen ihre Lebensweise gegen Anfeindungen behaupten müssen, höchst aktuell.

Die multimediale Dokumentation des Jugendwerkhofs Torgau ist aus Sicht der Jury bemerkenswert, da sie ein ostdeutsches Thema sichtbar macht, das in der oft gesamt- oder westdeutsch geprägten zeitgeschichtlichen Debatte sonst Gefahr liefe, unterzugehen. Mit „Stolpersteine NRW“ erschließt sich per Website und ergänzender (Augmented Reality-) App Geschichte für Nutzer*innen buchstäblich vor Ort und bringt durch den interaktiven Ansatz Vergangenes in die Gegenwart. Insbesondere die Bereitstellung von Materialien für den Unterricht hat der Jury gut gefallen – und sie würde es begrüßen, wenn über Nordrhein-Westfalen hinaus auch Stolpersteine in anderen Regionen über diesen digitalen Weg erschlossen und erlebbar gemacht werden könnten.

Dass das Internet auch ein Ort sein kann, der mit inklusiven Angeboten die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verdeutlicht und zugleich gehörlosen Menschen auch auf Social Media einen Informationsort bietet, zeigt das Angebot von „Hand drauf“. Hier werden in gebärdensprachlichen Videos Themen aus der und für die Community behandelt und im Ergebnis eine Brücke zwischen Hörenden und Nichthörenden gebaut. Diese Integrationsleistung hält die Jury für preiswürdig.

Immer wieder erörterte die Jury bei der Diskussion der Nominierungen, ob der im Zuge der Twitter-Übernahme durch Elon Musk vieldiskutierte dezentrale Ansatz der Microblogging-Lösung Mastodon wegweisend für den Versuch stehen könnte, der Abhängigkeit von den großen zentralen Social-Media-Plattformen zu entkommen, und ob Mastodon per Nachnominierung in den Kreis preiswürdiger Konzepte der Online-Publizistik aufgenommen werden sollte. Die Entscheidung wurde zwar gewissermaßen vertagt. Gleichwohl ist sich die Jury sicher, dass in den kommenden Jahren die Debatte um alternative Plattform-Konzepte intensiver werden wird, gerade im Umfeld öffentlich-rechtlicher Programmanbieter.